EndZeit

Am Vorabend des großen Tages sind alle Emotionen wieder da, die man so mühsam verscheucht hatte im vergangenen Jahr. Es war das Jahr der Trennung, das Jahr, in dem man unweigerlich ständig alles Revue passieren lässt.

Es war eine verrückte Zeit, die manchmal aus heiterem Himmel stehen blieb, rückwärts lief sogar.
Man fällt in viele Löcher und fängt oft von vorne an, bevor man irgendwann wieder so viel Licht sieht, dass die Hand vor Augen erkennbar wird, bis dieser verhasste, ersehnte Tag kommt.

Es fließen viele Tränen, bis man wieder lachen kann. Es ist eine Zeit zwischen Hoffen und Bangen um Zukunft und einen eigenen Weg.
Man ist ganz alleine, wie weggesperrt, verzweifelt auf der Suche nach dem Schlüssel zu dem Gefängnis, das man sich selbst gebaut hat.

Ich hatte diesen Schlüssel schon so manches Mal in der Hand, aber im Schloss war er noch nicht. Aber, so denke ich heute, Musik hörend, während Tränen mir über das Gesicht laufen, vielleicht kann ich ihn morgen hineinstecken und umdrehen. Ich sehne mich nach dem leisen Klicken, wenn sich die Tür öffnet, wenn ich das Schloss entriegle.
Und wenn ich das kann, dann laufe ich, ich laufe, bis ich nicht mehr weiter laufen kann, so weit.

Heute aber liege ich da, auf dem Bett, in dem er nie lag, denn es ist meines. Ich liege da, Musik hörend. Musik zu hören, laut zu singen hilft mir. Es hilft mir, das Weinen erträglicher zu machen.

Ich versuche, mich zu sortieren, herauszufinden, warum mir geräuschlos Tränen die Wangen hinunterlaufen. Ich sehe mich um in dem Raum, den er noch nie betreten hat, nie betreten wird, denn das hier ist meine Wohnung.

Ich bin heute wieder schwer verwundet.
Mir fehlt jede Fähigkeit, mich selbst zu ordnen. Alle Gedanken, alle Gefühle scheinen wieder da zu sein, völlig ungeordnet prasseln sie auf mich ein und es schmerzt wie einst. Da ist wieder die Trauer, die Wut, die Leere, die Angst, die Verzweiflung, das Scheitern.
Die Tränen laufen und laufen, während die Counting Crows „Colourblind“ singen.
Das Lied ist heute nur für mich gemacht, mich, deren Farben durcheinander wirbeln und mich blind für einzelne Töne machen. Es ist, wie wenn man alle Farben des Farbkastens mischt. Es bleibt ein schmutziges Grau, undefinierbar.

Ich frage mich, was er tut. Ob er auch nachdenkt, ob er auf morgen wartet, ob er versucht, zu sortieren, zu verstehen, oder ob er so tut, als wäre ein normaler Tag.
Ich schaue aus dem Fenster. Aber draußen ist nur Dunkelheit. Keine Ahnung, was er macht.

Einst war er ein großer Teil meines Lebens, noch früher der größte. Ich werde ihn morgen vielleicht zum letzten Mal sehen, lange nicht mehr hören. Ja, ich werde ihn vielleicht nie wieder anrufen. Wahrscheinlich werde ich ihn nie wieder anrufen und er mich erst recht nicht.

Ich liege da und weine. Ich denke daran, was alles verloren ist. Ich weine um Freunde, die nie mit mir gesprochen haben, nichts wissen wollten über die Umstände der Trennung, nichts wissen wollten von mir. Menschen, denen ich am Ende egal war. Menschen, die nie Freunde waren, meine eigenen personifizierten Fehleinschätzungen.
Ich weine um verlorene Familie, ich weine wegen der langen Einsamkeit zu zweit, die im Nachhinein noch deutlicher wird als zu erlebten Zeiten.
Denn jetzt erst weiß ich, wie einsam ich war, weil ich nicht mehr einsam bin, nur ehrlich allein.

Dennoch: das Scheitern schmerzt und die verpassten Gelegenheiten, das Morgige zu verhindern.

Ich liege da und es ist eine seltsam leere Völle.
Die verschiedensten Gefühle schwirren mir immer weiter durch den Kopf. Ich habe aufgegeben zu versuchen etwas zu erkennen, etwas sortieren zu wollen. Alles strömt durch mich hindurch.

Keine meiner Emotionen kann ich festhalten, keine verdrängen, noch nicht einmal verscheuchen kann ich auch nur eine von ihnen. Es ist ein Überfluss an Eindrücken ohne einen Punkt, an dem ich ansetzen könnte.
Das Kopfkissen ist nass. Meine Tränen sind die größten der Welt.

Ich frage mich, ob ich das alles irgendwann verarbeiten werde können, wenn ich nicht einmal einen Punkt finde, an dem ich ansetzen kann.

Seltsam, wie wichtig der morgige Tag ist, wie ersehnt und zugleich verdammt er ist.

Er birgt die leise Hoffnung auf einen Neuanfang, die Hoffnung auf Verdrängung und den Schlüssel zur Freiheit. Vielleicht kann ich alles vergessen, hinauslaufen aus dem Gefängnis.

Eine Hochzeit kann nicht aufregender sein als dieser Tag. Ich bin angespannt, ängstlich angesichts dessen, was mich erwartet.

Hochzeiten kennt man aus dem Fernsehen, von Freunden, Festen, an denen man teilgenommen hat.
Keiner Scheidung wohnt man bei, die nicht die eigene ist. Man heiratet mindestens zu zweit, meistens im Kreis der wohlwollenden Familie, unterstützt, getragen, geliebt.
Scheiden bedeutet, alleine in ein Richterzimmer hinein zu gehen und noch einsamer den Raum, in dem die Scheidung stattfindet, zu verlassen, keine Hoffnung mehr gesetzt in den Menschen, mit dem man einst einen Lebensentwurf gezeichnet hat.

Alles ist danach wieder offen, wie die Ausgangstür des Gerichts. Man tritt hinaus in den Regen oder, noch schlimmer, das strahlende Sonnenlicht, das man sich zur Hochzeitsfeierlichkeit so gewünscht hatte und das nun nicht mehr passt und kann in jede Richtung gehen. Muss man aber auch, stehen bleiben gilt nicht. Man muss sich für einen Weg entscheiden.

Die Scheidung ist das endgültige Ende eines Lebensabschnittes, mit Rechtskraftstempel auf einem Urteil, unauslöschbarer als das Eheversprechen, das gescheiterte. „Geschieden“ ist ein Makel, der bleibt.

Ich habe Angst vor morgen.
Ich weiß nicht, was auf mich zu kommt. Ich will nicht, dass morgen die Sonne scheint.
Ich will den Schlüssel in die Tür meines Gefängnisses stecken. Ich will das Klicken des Schlosses hören – und spüren.

Und für heute will ich einfach nur aufhören zu weinen.

Ein Gedanke zu “EndZeit

  1. Hat dies auf Zwei Fragezeichen rebloggt und kommentierte:
    Stark.

    „Scheiden bedeutet, alleine in ein Richterzimmer hinein zu gehen und noch einsamer den Raum, in dem die Scheidung stattfindet, zu verlassen, keine Hoffnung mehr gesetzt in den Menschen, mit dem man einst einen Lebensentwurf gezeichnet hat.“

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